„Vom Rückzug der (jüdischen) Tradition nach einem unermesslichen Desaster:
Wi(e)der die Erinnerungskultur”

A.S. BRUCKSTEIN ÇORUH

15. März, 2012

Literaturhaus Berlin

Donnerstag, 15. März, 2012
BERLIN, Literaturhaus

A.S. BRUCKSTEIN ÇORUH
„Vom Rückzug der (jüdischen) Tradition nach einem unermesslichen Desaster: Wi(e)der die Erinnerungskultur”

Wir veröffentlichen einen Teil des Textes in der vorgetragenen Fassung.

I Im Jahre der Flucht

Ich beginne mit einer persönlichen Erinnerung.

Diese berührt einen schmerzhaften Punkt, eine unlösbare Schwierigkeit, eine existentielle wie politische Aporie, das Eingeständnis eines Scheiterns, denn wie auch immer man es drehen und wenden möchte, meine Arbeit der letzten zehn Jahre, am Wissenschaftskolleg, in dem jüdisch-islamischen Projekt, mit den Berliner Festspielen, die große TASWIR Ausstellung, die Arbeit an der jüdischen Tradition, so die These, wird immer nur einen Schleier zeigen können, dessen, was nicht oder nicht (mehr) gezeigt, nicht oder nicht (mehr) gesagt, nur in Verkleidung und Mimikry berührt, nur im Versteckspiel, der Übertretung, gar der Transvestie behauptet werden kann. In dieser Transvestie des jüdischen Materials bleibt die jüdische Tradition sich treu, so die These, die den letzten zehn Jahren meiner Arbeit zu Grunde liegt.

Auf einem meiner letzten Streifzüge durch die Stadt, Al Quds, die Heilige, von der ich als Kind träumte, sie habe Flüsse statt Straßen, fand ich vor nicht langer Zeit in dem Buchladen des alten Herbert Stein eine unerwartete Kostbarkeit. Der Buchladen des alten Stein war ein Magnet für die ins Land gekommenen Deutschen gewesen, längst hat er seine Kundschaft verloren und sein Sohn Daniel, der den Laden nun regiert, resigniert hinter seinem improvisierten Verkaufstisch über dem gestorbenen Stoff der deutschen Juden. Nach einer langen Weile der Durchsicht durch allerlei Eklektisches fällt mein Blick dort auf das textile Muster eines Buchrückens, der zu einer rotgebundenen Kostbarkeit gehört. Ich trage sie als Hochzeitsgeschenk für meine bevorstehende Hochzeit aus dem Laden heraus. Es ist die Koran Ausgabe der Brandusschen Verlagsbuchhandlung Berlin aus dem Jahre 1916 in der Übersetzung des rabbinischen Gelehrten Lazarus Goldschmidt, derselbe Goldschmidt, dessen deutschsprachige Übersetzung des babylonischen Talmuds bis heute die einzig vorliegende ist.

Auf einer golddurchwirkten rot und blau florierten, reich ornamentierten Doppelseite fällt der Blick des Lesers auf die Ankündigung des Titels und die erste Sure des heiligen Korans auf goldenem Grund in folgendem Wortlaut:
„EL KORAN / das heißt / DIE LESUNG / Die Offenbarung des / Mohammed ibn Abdallah / des Propheten Gottes / Zu Schrift gebracht durch /Abdelkaaba Abdallah Abu Bekr / übertragen durch / Lazarus Goldschmidt / im Jahr der Flucht 1334 oder 1916 der Fleischwerdung.“ Auf der rechten Seite steht die erste Sure des Korans, „zur Eröffnung des Buches / Mekkanisch1 aus 7 Versen bestehend / Im Namen Gottes des Allerbarmers, des Allbarmherzigen,“ usf.

„Im Jahr der Flucht“ – der Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina – „oder der Fleischwerdung“ – nicht einfach „n.Chr.“, sondern mit ausdrücklichem Hinweis auf die theologischen Voraussetzungen christlicher Zeitrechnung. Was für eine überraschende doppelbödige persönliche Bezugnahme, und empathische Stellvertretung aus der Feder des großen deutsch-jüdischen Gelehrten. Warum?

Die Beweggründe für einen herausragenden jüdischen Gelehrten, sich mitten im ersten Weltkrieg unter Auslassung jüdischer Bezüge stellvertretend an einen Punkt der Gleichzeitigkeit islamischer und christlicher Zeitrechnung hinein gestellt zu haben, bleiben im Dunkeln. Die Inspiration, die von dieser Geste für eine Handvoll jüdische Intellektuelle heute ausgehen mag, die mit Traurigkeit der Zerstörung und dem Verschwinden der kosmopolitischen jüdischen Traditionen zusehen, lässt sich hingegen darlegen. Es lässt sich vor allem darlegen, warum es der Abwege und Umwege bedarf, um diese Traditionen zu berühren – warum wir den jüdischen Stoff, der sich in einem großen Museum, oder einer Galerie in Istanbul, oder in Zusammenarbeit mit William Forsythe, oder an einer Psychoanalytischen Hochschule noch zeigen lässt, in einer gewöhnlichen Talmud Akademie so nicht mehr zeigen können. Niemand hat dies eindrücklicher dargelegt als der libanesische Schriftsteller und Filmemacher Jalal Toufic in seinen Arbeiten über den Effekt eines anhaltenden Desasters jenseits der Katastrophe der Zerstörung.

Jalal Toufic veröffentlicht 2009 einen Text mit dem englischen Titel „The Withdrawal of Tradition Past a Surpassing Disaster“. TASWIR projects hat diesen 2011 im August Verlag in der Übersetzung von Christoph Nöthlings auf Deutsch veröffentlicht: „Vom Rückzug der Tradition nach einem unermesslichen Desaster“. Was meint Jalal Toufic mit dem Begriff eines „unermesslichen Desasters“? Ein unermessliches Desaster, nach Jalal Toufic, ist eine Zerstörung durch Krieg, Mord, koloniale Besatzung, Völkermord oder andere gewaltsame Vorkommnisse, die nicht nur eine materielle Zerstörung von Personen, Gebäuden und kommunalen Strukturen während der gewaltsamen Ereignisse bewirkt, sondern die einen irreparablen Rückzug der Tradition selbst nach sich zieht – auch dann noch, wenn die Bücher, Bibliotheken, Museen, Gebäude und anderen beschädigten Artefakte der zerstörten Community längst materiell wieder hergestellt sind. Ein unermessliches Desaster, nach Jalal Toufic, bewirkt über die materielle Zerstörung hinaus einen immateriellen Rückzug der Tradition, der über die Katastrophe hinaus fortwirkt, sodass es für Schriftsteller, Künstler, Filmemacher, Musiker und andere Kulturschaffende fortan nicht mehr möglich ist, das Material ihrer eigenen Tradition nach der Katastrophe wieder herzustellen, zu berühren, zu bearbeiten, zu tradieren, sogar dann nicht, wenn die Materialien physisch und materiell wieder in Fülle zu haben sind. Die Tradition zieht sich „immateriell“ zurück, aufgrund des irreparablen Schadens, den sie durch die Gewalt der Ereignisse genommen hat, ein irreparabler Schaden, für den diejenigen sensibel sind, die der Community, die von dem Schaden betroffen ist, angehören.

Die jüdische literarische Tradition, zum Beispiel, war arabisch sprachig im 12. und 13. Jahrhundert von Bagdad bis Fez, Kairo und Cordoba, und sie war deutschsprachig in den Rabbiner Seminaren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Beide Zeitfenster haben in ihrer spezifischen Gelehrsamkeit und kosmopolitischen Offenheit eine Wissenschaft des Judentums geprägt, deren Quellen in arabischer und deutscher Sprache gefasst sind und die die jüdische literarische Welt weit jenseits der unmittelbaren Beschäftigung mit traditionellen Stoffen tief geprägt haben. Der kosmopolitische Esprit dieser Quellen, die radikale Verweigerung territorialen Denkens, die in ihnen zum Ausdruck kommt, lässt sich allerdings nicht mehr einholen. Nach dem Mord der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten und nach der Gründung eines jüdischen Nationalstaates scheint der Weg zu dieser weltläufigen Offenheit versperrt, obwohl die Materialien in wachsenden, gut sortierten Bibliotheken in Jerusalem, New York, Berlin und anderswo leichter zu haben sind, denn je. Eine Handvoll jüdischer Intellektueller, mehr sind es nicht, sehen sich heute mit einer paradoxen und zunehmend schwieriger werdenden Aufgabe konfrontiert, der Aufgabe der Vergegenwärtigung einer Tradition inmitten ihres immateriellen Rückzugs, noch dazu auf einem Agitationsfeld, das von einem perversen Phantombild dessen, was nicht mehr zu haben ist, bestimmt wird: jüdische Traditionen, die sich insbesondere in arabischer und deutscher Sprache exponiert haben und sich oft auf radikale Weise der Begrenzung ihrer Horizonte durch territoriale Repräsentationen und Grenzsetzungen verweigerten, finden sich nun fast durchgängig in Liaison mit einem Territorialstaat, dessen Prinzipien der Ungleichheit seiner Bürger diesen kosmopolitischen Quellen von Anbeginn zum Hohn gereicht. Die Berufung auf „jüdische Tradition“ in dieser Umklammerung wird zur verachtenden Usurpation, zur Mimikry, Nostalgie und Kitsch, im besten Falle zu einer Erinnerungskultur der Doppelgänger.

Am radikalsten vom immateriellen Rückzug betroffen ist jene Tradition des Messianischen, die bis in das 20. Jahrhundert der Literatur, Philosophie, Kunst, und Psychoanalyse hinein behauptet hat, die Erlösung finde nicht im linearen Fortgang der Geschichte, nicht in der Politik irgendeines Staates, sondern nur im fortwährenden Aufschub der Beheimatung, in der unendlichen Verzögerung der Ankunft, in einer Art doppelt, dreifach und vielfachen Bahnung der Differenz, in der Lücke des nicht-Identischen statt, für die die rabbinischen Gelehrten das Wort „Galut“ – „Exil“ geprägt haben.

Photo: Gilbert Hage / Toufican Ruins? 2010

Diese Art der Historiographie, für die der Blick auf die Vergangenheit aus einer noch nicht eingelösten Zukunft erwächst, und die in der rabbinischen Überlieferung die Lektüre aller Dinge bestimmt, gibt den Blick auf ein Trümmerfeld frei, auf dem die Inspiration durch jüdisches, rabbinisches, traumwandlerisches Denken nicht mehr zu haben ist. Jedenfalls nicht ohne den Schleier der Verwandlung.

Copyright A.S. Bruckstein Çoruh